Eigentlich wollte ich nur nach Hause. Es war mitten in der Nacht, ich war sehr müde und hatte den letzten Bus verpasst, also beschloss ich, zu Fuß zu gehen. Der Mond hing wie die Silbermedaille im Schweigen über den dunklen Sträuchern, und dadurch, dass es ab und zu im Gebüsch am Wegesrand raschelte, bemerkte ich, wie still es ansonsten war.
Wer keine andere Möglichkeit hat, kann ohne Probleme auch weite Strecken zu Fuß zurücklegen, schließlich braucht man nie mehr zu tun, als den nächsten Schritt zu machen. Mühsam ist es aber trotz alledem.
Das größte Problem war meine Müdigkeit. Wenn mir während des Gehens die Augen zufielen und ich sie kurz darauf wieder öffnete, konnte ich mir vorstellen, dass in der Zwischenzeit Stunden vergangen waren. Mein Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, mir war schlecht vor Müdigkeit, und ich brauchte dringend eine Rast. Aber was sollte ich machen? Mein Weg war ein sandiger Pfad in der Dunkelheit, der sich nach etlichen Windungen in der Ferne verlor, und ich hatte nicht einmal eine Jacke dabei, die mir im Notfall als Kopfkissen hätte dienen können. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als weiter zu wanken, aber mit jedem Schritt wich die Hoffnung, es noch in dieser Nacht nach Hause zu schaffen.
Ein paar Dutzend Meter weiter musste ich wohl eine Wiese am Waldrand zu meinem Nachtlager erklärt haben, denn auf dieser erwachte ich am nächsten Morgen, umgeben von Kühen.
Die Luft war warm und angefüllt mit einem sommerlich-würzigen Duft und dem Rauschen von Gras im Wind. Ich sah mich um, um festzustellen, wo ich war, doch nichts kam mir bekannt vor, und auch die Kühe machten keinerlei Anstalten, etwas zur Klärung der Situation beizutragen. Ich stand auf, klopfte mir Gras und Erde von der Hose und spähte in alle Richtungen nach anderen Menschen, aber es war dort niemand außer mir, und so machte ich mich auf, in eine beliebige Richtung davonzumarschieren. Ich hatte mich in der Nacht gut erholt, und das Gehen fiel mir nicht mehr schwer.
Es begann wirklich, Sommer zu werden. Die Farne am Wegesrand entrollten sich mit unhörbarem Knistern, Eidechsen flitzten geschäftig durchs Unterholz, und dicke Hummeln surrten von einer Pflanze zur nächsten, um sich ihr Frühstück zusammenzustellen. Blumen arbeiteten sich aus dem Waldboden durch Blätter, Holz und Gestrüpp hervor, und aus einer anderen Ecke des Waldes drang sogar der Ruf eines Fasans herüber, doch ich musste weiter. Der Wald ist, sei er auch prächtig, kein Wohnort, sondern eine Art Hindernis - man kann nicht in ihm leben, sondern geht durch ihn hindurch, um nach Hause zu gelangen. Ich ging also über Stock und Stein, über Wurzeln, Mulden und Sträucher und malte mir aus, wie lange es wohl dauern würde, nach Hause zu kommen.
Auf dem Weg wurde es mal sonniger, mal schattiger, mal wärmer und mal kühler. Mal war es so still, dass ich nur mich selbst hören konnte - meine gleichmäßigen Schritte - und mal zirpten Grillen um die Wette, klopften Spechte ihre Rhythmen an die Bäume, während Singvögel einander ihre Ansichten offenbarten. Wenn man genau hinschaut, ist von allem etwas da - im Kleinen und im Großen. Es ist sogar erstaunlich viel da, wurde mir bewusst, für jedes Lebewesen und für alle Sinne. Ich musste nur noch meine Pforten öffnen für die Fülle, denn das hatte ich nicht getan. Überhaupt geschieht das viel zu selten.
Meinen Augen zum Beispiel gefiel das Spiel von Licht und Schatten, sie suchten die unendlich verschachtelten Kontraste und wiederkehrenden Muster. Minutenlang nahmen sie den Wald ganzheitlich in sich auf, um sich danach in einem kleinen Detail zu verlieren. Es machte ihnen Freude, etwas zu entdecken, und es machte ihnen auch Freude, nichts zu entdecken und einfach nur dahinzugleiten, während ich Meter um Meter hinter mir ließ. Mit der Zeit war mir kaum noch bewusst, dass ich mich überhaupt fortbewegte. Und wohin auch? Der Wald sah in jeder Richtung anders aus, aber nichts wies auf den richtigen Weg hin.
Meinen Ohren gefiel das Rauschen des Windes, das Brummen der Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Knirschen der Erde unter meinen Füßen. Wie am vorigen Abend raschelte es auch gelegentlich in den Büschen, nur jetzt häufiger als zuvor. Die Geräusche des Waldes sind keine Kulisse - sie sind der Wald selbst, ein Ausdruck des Lebens und des Wandels. Sie künden von Bedürfnissen und Nöten, von Liebe und Angst, doch niemals von Hass. Der Wald ist ein Ort ohne Hass, auch wenn die Bäume über meinem Kopf von Zeit zu Zeit griesgrämig knackten und sich so über die Last der Jahrzehnte beschwerten.
Meiner Nase gefiel die Vielfalt der Gerüche. Wo es eben noch nach Nektar gerochen hatte, mischte sich später der modrige Atem des Waldbodens dazu, während es an anderen Stellen des Waldes nach Bärlauch, Gräsern, Holz oder dem Harz der Nadelbäume duftete. Mit der Zeit konnte ich die speziellen Gerüche von Moos und Heu, von Löwenzahn und Kleeblüten unterscheiden, und ich dachte nur ganz kurz daran, wie lange es her war, dass ich so etwas zum letzten Mal gerochen hatte. Die Düfte waren nicht von Dauer, deshalb deckte ich mich reichlich mit ihnen ein, während ich weiterging.
Und es gefiel meiner Seele zu erkennen, dass der Wald so einladend und betörend ist, weil er nicht vorgibt, etwas anderes zu sein, als er ist. Ich war willkommen, wurde aber nicht umsorgt. Ich durfte alles entdecken, aber nichts zerstören. Ich war kein Gast in diesem Wald, denn für Gäste gelten besondere Regeln. Ich dachte: Manchmal ist der Weg nach Hause ein Abenteuer, denn zu entdecken gibt es reichlich. Der Wald ist voller Geheimnisse. Und Geheimnisse, das wusste ich schon vorher, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich, genauso wie eine nächtliche Lichtquelle Insekten anlockt. Sie sind meine Lichtquelle - Geheimnisse.
Wer kann sagen, welches Insekt sich in dieser Puppe entwickelt? Wie entsteht ein Ameisenhaufen? Wo gehen Amseln schlafen? Der Wald fordert nicht von mir, etwas über ihn zu wissen. Er erzählt mir seine Geschichte, Satz für Satz, Wort für Wort, freigebig und geduldig. Ob ich zuhöre, liegt an mir, nicht an ihm. Das Gute ist, dass er seine Geschichte immer wieder erzählt - nur für den Fall, dass ich etwas verpasst habe. Ich kann jederzeit wieder herkommen und anknüpfen, wenn ich möchte.
Nachdem ich eine ganze Weile gelaufen war, kam ich an eine Gabelung. Zum Glück fand ich einen Wegweiser, mit dessen Hilfe ich den richtigen Weg einschlagen konnte. Wenn zwei Wege zur Auswahl stehen, ist derjenige, für den man sich entscheidet, immer der richtige, dachte ich mir. Im Grunde genommen entscheidet man sich ja doch nur für irgendeinen Weg, nicht für den richtigen, aber immerhin macht man ihn damit zum einzig möglichen. Nach Hause kommt man immer. Irgendwie. Aber ... wollte ich überhaupt noch nach Hause? Fest stand jedenfalls, dass mein Zuhause nicht mehr dasselbe sein würde, wenn ich aus diesem Wald herauskäme. Denn ein bisschen von ihm würde ich auch Zuhause vorfinden.
Dort sah ich sie dann, die Königin des Waldes. Durch Zufall habe ich sie entdeckt, und ich wusste, dass ich sie, wenn ich jetzt fortginge, nie mehr wiederfinden würde. Und ich wusste auch, dass ich das nicht brauchte. Denn was man im Wald entdeckt, hängt nur davon ab, wie genau man hinschaut und wieviel Geduld man hat. So lächelte ich dann, als ich weiterging. Heute hatte ich Eidechsen, Baumpilze und Maikäfer gesehen und eine Audienz bei der Königin gehabt. Ein andermal würde ich vielleicht die Blüten des Mooses oder eine Blindschleiche bewundern.
Ich würde wiederkommen. Nicht an diese Stelle, vielleicht noch nicht einmal in diesen Wald zurück. Weil er und ich uns in der Zwischenzeit ohnehin verändert hätten, macht das keinen Unterschied.
Aber nun muss ich los. Ich habe meinen Weg gefunden, einen von vielen. Morgen wird er auch noch da sein, aber ich nicht. Ich lasse mich dann vielleicht schon von einem anderen Wegweiser leiten oder tappe einfach ins Grüne. Denn dazu ist es da, denke ich, kurz bevor ich den Wald verlasse und wieder auf einer Straße bin, die mich nach Hause führt.
Anmerkungen
Die Fotos habe ich auf einem Ausflug in den Duvenstedter Brook am 25.04.09 geschossen. Die Makro-Aufnahmefunktion meiner Kamera gefällt mir sehr gut, weswegen ich mich dazu hingezogen fühle, entsprechende Bilder zu machen. Bei der Hornisse könnte es sich meines Erachtens tatsächlich um eine Königin gehandelt haben, denn Arbeiterinnen und Drohnen werden für gewöhnlich nicht so groß. (Sie hätte mir nicht gerade den Kopf von den Schultern knipsen können, aber fünf Zentimeter waren es schon.) Der Maikäfer (wahrscheinlich ein Feldmaikäfer) war auch ein prächtiges Exemplar, obgleich ihm die typischen pinselartigen Fühler fehlten. Die hier erzählte Geschichte ist natürlich frei erfunden.