Wir kennen uns, seit wir kleine Kinder waren. Wir haben zusammen gespielt und hatten viel Spaß, auch wenn ich mal hingefallen bin oder sie in einen Teich mit Krokodilen geplumpst ist. Sie ist hart im Nehmen. Kinder lieben das Außergewöhnliche, deshalb habe ich sie manchmal auch absichtlich reingeschubst, das muss ich zugeben.
Ich würde das jetzt nicht mehr machen, denn unsere Beziehung hat sich schließlich weiterentwickelt.
Früher habe ich sie oft besucht, wenn niemand sonst da war. Ich wusste nie genau, wo sie eigentlich steckt, aber meistens haben wir uns dann doch zufällig getroffen, im Wald bei den beiden Baumwurzeln, die so aussehen wie Elefanten, oder auf der wolkenverhangenen Spitze ihres Lieblingsberges.
"Wenn du willst, dass ich hierbleibe, dann musst du mich besuchen", hat sie gesagt. Ich wollte nicht, dass sie dort bleibt, aber ich wollte sie trotzdem besuchen. Ich habe ihre Regeln nie so ganz verstanden.
Wir haben in den Sümpfen der brennenden Schwäne geangelt. Ich habe viel Zeit darauf verwendet, den passenden Köder auszusuchen - lila Seifenblasen für gelbgestreifte Greiflinge, Einsiedlerkrebse für braune Berserkerfische und lackierte Nebelflusen für die Ungetüme der Traumgezeiten.
Um Köder hat sie sich nie gekümmert - sie hatte meistens einfach Glück. Wenn ich einen Greifling aus dem Sumpf gefischt und in die Zeitkapsel der jungen Pionierjahre gesteckt hatte, hat sie das nie interessiert. Ich habe ständig zu ihr rübergeschaut, um ein Zeichen ihres Neides zu erkennen, aber mit der Zeit musste ich einsehen, dass Angeln kein Wettbewerb ist. Das hat mir geholfen, damit fertig zu werden, dass sie an einem Tag sieben Ungetüme und zwei Schweinswale aus dem Wasser gezogen hat, und das ohne Köder. Manchmal war es deprimierend.
Einmal hatte sie sogar ein anderes Universum an der Angel, aber sie hat es wieder reingeworfen.
Als ich zwölf war, hat sie meine Hand genommen und mich ins Silikatgebirge geführt. Die Felsen dort brechen das Licht millionenfach, wie in einer logischen Schleife zirkelt die Welt um Untermengen ihrer selbst. Ich fühlte mich durchstrahlt von verzerrten Spiegelungen meiner eigenen Seele und konnte nach einer Weile nicht mehr unterscheiden, welche Spiegelung zu wem gehörte.
"Das gehört sowieso alles zusammen", hat sie gesagt.
Sie hat nicht darauf geachtet, dass ihre Gestalt nach kurzer Zeit verschwommen war, hier gedehnt wie ein Gummihuhn, dort geplättet wie eine vertrocknete Qualle. Es machte ihr nichts, dass sie für mich aussah wie ein Quader. Manchmal geht es nicht ums Aussehen. Selbst als wir das Silikatgebirge wieder verlassen haben, sah sie nicht ganz normal aus, aber das ist mir nicht aufgefallen.
Mit fünfzehn wollte ich mit ihr Drachen fliegen. Ich hatte eine Schnur von siebenundzwanzig Metern Länge, aber einen Drachen hatte ich nicht.
"Dann träum dir doch einen", hat sie gesagt. Ich wusste nicht, wie man sich einen Drachen träumt, deshalb musste ich ihren nehmen.
Sie musste mir auch helfen, aufzusteigen. Ich kam mir da ein bisschen dumm vor, aber sie hat mich einfach raufgezogen. Sie ist von schmaler Statur, aber eine Draufgängerin. Ihre Fersen hatte sie schon zum Steuern an die Flanken des Drachens gelegt, damit er nicht irgendwohin fliegen konnte.
"Die sind tückisch", hat sie gesagt. "Wie Geistesblitze."
Wir sind viel rumgekommen, haben den Nisthügel der Glutaugen überflogen, das Schattenfarnreich, den lebenden Acker, die Zwillingsspitze des Siebenberges und gegen Ende der Reise eine Kolonie von versteinerten Chimären. Von oben sah alles ganz winzig aus.
"Das ist es auch", hat sie gesagt, mit vom Wind zerzausten Haaren.
Ich musste aber bald nach Hause zurück zum Abendessen, also hat sie mich abgesetzt und ist allein weitergeflogen.
An meinem neunzehnten Geburtstag habe ich sie abgeholt zum Schwimmen. Wir mussten lange laufen, sie hat mich zum See der Einstigen Finsternis gebracht. Mir war zu Anfang etwas mulmig zumute, denn man erzählt sich über diesen riesigen See, dass ein seltsames Wesen darin hause.
"Das bist du", hat sie gesagt und ist hineingesprungen.
Damit war es klar, und es machte mir nichts mehr aus. Zuerst sind wir nur geschwommen, und das trübe Wasser, welches mit spinnenähnlichem Seetang durchwoben war, sah um ihren Hals aus wie eine gigantische gelbgraue Rosette, die den Stiel einer Biertulpe umgibt. Das Wasser war warm, also konnten wir uns Zeit nehmen für unsere Erkundung.
Die umhertreibenden Gewebefetzen waren nur nahe der Oberfläche zu finden, weiter unten lichtete sich der See, und wir tauchten hinab, hinab zu den einst finsteren Quellen der Zukunft, hinab zur Vision des Tiers, hinab in die Wurmhöhle.
Ihre Haare schwebten im Wasser, als seien sie aus lebendigen Tintenfasern. Ich fragte mich, warum ich unter Wasser atmen konnte.
"Das kannst du über Wasser doch auch", hat sie gesagt. Und wir tauchten weiter hinab.
Auch jetzt, wo ich erwachsen bin, nimmt mich meine Muse noch manchmal bei der Hand, als seien wir kleine Kinder. Und irgendwie ist sie das auch, mit ihren leuchtenden Augen und ihrer ungebremsten Neugier. Obwohl auch sie groß geworden ist. Und sie ist schön. Unheimlich schön. Ich denke gelegentlich, dass sie schon alles gesehen haben muss und jedes Geheimnis kennt. Sie lacht dann.
"Kennst du denn alle Geheimnisse?", fragt sie und zieht mich mit sich.
Natürlich kenne ich die nicht, obwohl sie mir schon so viel gezeigt hat. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich, denn sie selbst wird mir immer das größte Geheimnis bleiben.
Ab und zu sitze ich mit ihr in der alten Kapelle des Zwielichttals, Rücken an Rücken, und wir schauen auf die welken Weinreben unten am Lethe, der sich wie ein Strom aus bitterem schwarzem Blut einen Weg durch die Ebene bahnt. Der dunkle Mohn sieht auf den Feldern aus wie Tropfen von Teer, und ausser dem Wind ist kein Geräusch zu hören. Wir sitzen lange da, eine Ewigkeit oder länger, und wenn ich zurückkehre, muss ich erst wieder lernen, was Farben sind.
Zwischendurch sehe ich sie über lange Zeiträume nicht. Wenn ich sie vermisse, gehe ich in den Wald und suche die Stelle mit den zwei Elefanten, aber ich reisse mir nur die Arme an den Brombeerdornen auf und finde den Ort nicht mehr. Ihren Lieblingsberg, den finde ich natürlich wieder, aber wenn ich dann mehrmals verwirrt einen falschen Gipfel erklommen habe, geht mir die Puste aus und ich muss mich geschlagen geben.
Es kommt mir gelegen, wenn es anfängt zu regnen, denn dann versuche ich, meinen Handabdruck in die Oberfläche einer Pfütze zu pressen, wie wir es oft zusammen tun. Ist sie barfuß, drückt sie auch ihre Zehen hinein - es sieht dann aus wie der Abdruck eines Tieres, das auf allen sechsen geht, wie es sonst meistens nur Insekten tun. Sie lächelt über das kitzelnde Gefühl zwischen den Zehen, und wenn sie lächelt, beginnt die Pfütze zu leuchten.
Bin ich jedoch allein, will es mir nicht gelingen. Mein Handabdruck ist nicht von Dauer, und würde es nicht regnen, befänden sich trotzdem Rinnsale auf meinem Gesicht.
Monate können vergehen, ohne dass ich sie sehe. Ich denke daran, was ihr Spaß machen würde und lege mich auf eine Wiese, beobachte die Enten auf dem See oder klettere auf einen Baum. Ich ziehe mich zunächst auf die starken Äste in Bodennähe hinauf und steige dann weiter in den grenzenlosen grünen Wipfel, bis es nicht mehr weiter geht. Die Zweige werden dünner und stehen weiter auseinander. Es ist schwierig, bis ganz nach oben zu klettern.
"Viel schwieriger ist es, zu den Wurzeln zu klettern", höre ich dann vielleicht eine Stimme von oben, und mein Herz fängt an zu pochen, und wenn ich dann mit feuchten Wimpern nach oben schaue, blicke ich in ihre Augen, und sie reicht mir die Hand und zieht mich rauf. Wenn ich sie lange nicht gesehen habe, vergesse ich immer, wie schön sie ist.
Ich habe ihr erzählt, dass es für mich immer schwieriger wird, sie zu finden, aber sie hat mich nur kurz angeschaut und gar nicht weiter zugehört. Sie spricht nicht viel, und sie lacht auch nur selten, und was ich zu ihr sage, scheint kaum eine Bedeutung für sie zu haben. Wenn ich ihr sage, dass mir ein Ort gefällt, dann lächelt sie ganz sacht, sagt jedoch nichts. Aber es war mir ernst, also bin ich ihr gefolgt.
Ich habe sie gebeten, stehenzubleiben, aber sie hat nur mit ihren großen Augen zurückgeschaut und ist weitergegangen, hinein in ein Feld mit Springfäden. Ich habe ihr gesagt, dass mir der Gedanke Angst macht, sie nicht mehr zu sehen, und ich konnte nicht glauben, dass es sie ungerührt ließ. Sie zupfte im Gehen einen Springfaden aus dem Boden und reichte ihn zurück zu mir. In meinen Händen fühlte er sich an wie Weizen.
Ich habe ihr gesagt, dass ich sie vermisse, und dass ich nicht wüsste, wieviel Zeit uns noch bleibt. Sie ist einfach weitergegangen. Wie um zu fragen, ob ihr überhaupt etwas an mir liegt, bin ich stehengeblieben, anstatt ihr zu folgen. Ich hatte fast damit gerechnet, dass sie nun für immer verschwinden würde, aber sie ist zurückgekommen zu mir und hat mir ihre Hand hingehalten, als sollte ich ihr etwas geben. Und da verstand ich sie.
Ich gab ihr meine Hand.
Dass sie meine Gedanken erraten kann, hatte ich immer gewusst, aber nun verstand ich auch, warum sie nicht zuhört.
Ich fühle mich wohl mit ihr. Wir können lange miteinander zubringen, ohne zu sprechen, ich nehme sie dann und wann huckepack und wir laufen mit wilden Nasobemen um die Wette, und wenn in der Frosthöhle der Eismutter Winter herrscht, kuscheln wir uns zusammen in eine Decke und lassen die Eiszapfen klingen. Wenn sie zu schnell müde wird, trage ich sie wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, bis wir einen Platz zum Schlafen finden.
"Wenn du aufwachst, bist du wieder zuhause", sagt sie und schläft bald ein.
Ich habe sie angesehen, während sie schlief. Ihre Augen bewegen sich nicht unter den Lidern. Ihre Brust hebt und senkt sich langsam und gleichmäßig, ihr Atem streicht über meinen Hals wie ein warmer Seidenschal, und ihr Gesicht hat einen Ausdruck von erfüllter Ruhe. Ich habe ihr stundenlang zugesehen, weil ich wissen musste, was während der Nacht geschieht. Aber die Nacht währte Wochen, und irgendwann bin ich eingeschlafen.
Ich muss ihr folgen, wenn ich sie sehe, ich kann nicht anders. Sehe ich sie vor dem Fenster, dann klettere ich hindurch, denn ginge ich durch die Tür, wäre sie fort. Ich klettere durch das Fenster in die staubigen Ebenen von Sturmbruch oder in das Herz des Alten Waldes, wo sie mir durch das Dickicht vorausgeht. Sie schreitet voran, mal lachend, mal vorsichtig, bringt mich auf friedliche Lichtungen, auf denen Sonnenkitze grasen, bringt mich in Höhlen feuerspeiender Berge, in denen Drachen ihr Unwesen treiben.
Wir sind durch die Hölle gegangen und nur knapp dem Tod entkommen, doch das verbindet uns nicht.
Ich liebe sie, meine Muse, vom ersten Tag an oder noch kurz davor, doch das verbindet uns nicht.
Allen Orten, die sie mir zeigt, begegne ich mit derselben Ehrfurcht wie sie selbst, doch das verbindet uns nicht.
Es ist die Hand, die sie mir reicht; die Hand, die ich voller Vertrauen ergreife. Es ist die Hand, die mir Gewissheit gibt, dass ich willkommen bin.
Wenn ich sie nicht begleiten kann, bringt sie mir dann und wann etwas mit. Ihre Taschen haben zwar Löcher, und manchmal, wenn etwas rausfällt, stoßen wir mit den Köpfen zusammen, wenn wir es aufheben wollen, aber das findet sie nicht schlimm. Sie reibt sich kurz ihren Kopf, dann ist es vergessen, und ich kann mir ansehen, was sie für mich bewahrt hat. Sie ist unbekümmert in dem, was sie mir mitbringt. Mal ist es ein dreiblättriges Kleeblatt, mal ein gekochtes Hagelkorn, und mal sind es Dinge, die es unmöglich geben kann. Bin ich ihr nah genug, kann ich oft noch den Duft der Welten wahrnehmen, die sie bereist hat.
"Du kannst es nicht behalten", sagt sie.
Das weiß ich. Nichts von alldem kann ich behalten. Aber ich behalte es in Gedanken.
Meine Muse
M
Dankeschön. Ja, meines auch - ich habe versehentlich mit meinem Herzblut geschrieben.