Schweden 2009

S

Es war einmal ein Mann, der eine Firmen-Website inklusive Online-Shop in der Endphase programmierte und eigentlich gar keine Zeit für eine Reise hatte. Doch er hatte seiner Kollegin schon viele Monate zuvor zugesichert, er würde als Chauffeur einer Reisegruppe nach Schweden mitfahren, und so sollte es schließlich auch kommen.

Am 15. Juli 2009 traf er sich mit seinen Kolleginnen im Nachbarschaftstreff Dulsberg, um das Gepäck der 24 Reiseteilnehmer in 2 Kleinbussen unterzubringen, einem roten VW Caravelle mit verlängertem Radstand und einem weißen Opel Arena. Es wurden zahlreiche Koffer und Taschen eingepackt, Rucksäcke, Kaffee, Tee, Wein, Spiele und vieles andere, was auf einer zweiwöchigen Reise nötig sein würde. Am nächsten Tag ließ sich der Mann um 05:00 Uhr wecken, nahm gemütlich ein Bad und machte sich reisefertig. Er traf sich um 07:00 Uhr mit seiner Kollegin und drei weiteren Reisenden, und die fünf fuhren einige Zeit später mit den zwei Bussen im Convoy Richtung Nordosten los.

Die Reise ging über Lübeck und Puttgarden und dann mit der Scandlines-Ostseefähre nach Rødbyhavn (Dänemark), auf der sie, halb zufällig, halb planmäßig mit dem Rest der Gruppe zusammentrafen, der mit dem Zug von Hamburg aus losgefahren war. Die Überfahrt dauerte nur 45 Minuten und kostete pro Bus 64 Euro. Von diesem Zahlungsmittel konnte sich der Mann für die nächsten Wochen allerdings verabschieden, denn in Dänemark und Schweden bezahlte man in den allermeisten Fällen mit Kronen. Dänischen oder schwedischen Kronen, wobei ein Euro je nach Wechselkurs etwa 10 bis 11 schwedischen Kronen entsprach. Größere Ladenketten wie zum Beispiel H&M nahmen auch Euros an, aber mit Kronen war man auf der sicheren Seite.

Die Bus-Gruppe fuhr in Rødby von der Fähre ab und von dort aus nach Kopenhagen, über die Öresundbrücke nach Malmö (Schweden), und dann weiter über Lund, Hörby, Kristianstad und Karlshamn nach Järnavik in der Mitte des Südzipfels von Schweden. Ihr Ziel war ein Vandrarhem ("Wandererheim"), etwas, was man hierzulande als Jugendherberge bezeichnet hätte. Die Gesamtstrecke zum Reiseziel betrug etwa 540 Kilometer. Zusammen mit seinen Bus-Mitreisenden lud der Mann das Gepäck aus den Wagen vor das Vandrarhem - die Übergabe des Hauses erfolgte erst später - und fuhr daraufhin wieder los, um diejenigen, die nicht mit dem Bus gekommen waren, vom Bahnhof in Bräkne-Hoby abzuholen.

Die Aufteilung des Hauses sah es vor, dass der Mann sich ein Zimmer mit einem anderen Gast teilen sollte. Das Zimmer verfügte über zwei Hochbetten, und der Mann nahm die obere Etage eines der Betten in Beschlag. Schon kurze Zeit später sollte das Zimmer aussehen wie eine Räuberhöhle, denn der Mann war nicht sehr diszipliniert, wenn es darum ging, Ordnung zu halten.

Als alle Reisenden sich eingerichtet hatten und das Gepäck verstaut war, gab es Abendessen - Nudeln mit Tomatensauce. Dies schien die traditionelle Ankunftsmahlzeit auf den Sommerreisen des Nachbarschaftstreffs zu sein, weil sie schnell gemacht und die Zutaten gut zu transportieren waren. Zeit zum Einkaufen hatten sie nämlich noch keine, denn das Einkaufen für 24 Leute dauert immer etwas länger, und in der Nähe des Vandrarhems gab es keine Geschäfte.

Am Abend folgte noch eine Besprechung, dann hatte der Mann Zeit für sich selbst und beschloss, ein Buch zu lesen, das ihm eine liebe Bekannte für diese Reise geschenkt hatte - "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" von David Foster Wallace. Bald war es auch schon Zeit zum Schlafen, und seitdem wurde der Mann mit jeder Nacht auf seiner Reise müder und müder, teils wegen der dünnen lichtdurchlässigen Vorhänge, teils wegen des Kindergeschreis am Morgen.

Der Mann mochte Schweden. Die saftigen grünen Wiesen, die üppigen Sträucher und Bäume, die malerisch flechtenbewachsenen abgestorbenen Äste hier und da, die hohen Hügel mit den glatt erodierten Steinriesen, die aussahen, als hätte ein Gletscher achtlos seine Hosentaschen ausgeleert, die leuchtenden Felder, das von steil abfallenden Felsen gesäumte Meer - er mochte das alles. Er mochte die salzige schwedische Butter und den süßen schwedischen Blandsaft.


Die täglichen Mahlzeiten wurden von den Reisenden selbst zubereitet und schmeckten dem Mann allesamt vorzüglich. Der Einkauf fiel in Hinsicht auf die Menge der Lebensmittel ziemlich reichhaltig aus, so kaufte der Mann mit seinen Kolleginnen im Supermarkt in Ronneby beispielsweise 17 Salatgurken, 30 Tomaten und Fischfilets, 18 Liter Frischmilch und so weiter, so dass am Ende eines Einkaufs jeweils 3 Einkaufswagen gefüllt waren. Diejenigen Lebensmittel, bei denen dies nötig war, wurden in 3 Kühlboxen zum Vandrarhem zurücktransportiert, alles andere wurde in Klappkisten, Kartons und Tüten verstaut.

Am 22. Juli wurde eine gemeinsame Reise zur nahe gelegenen Insel Tjärö unternommen, einer Insel, die, außer dass es ein Restaurant und einige Unterkünfte für Gäste auf ihr gab, nicht besiedelt zu sein schien. Die Fahrt erfolgte mit einem kleinen Motorschiff, das zwischen Järnavik und Tjärö pendelte. Auf der Insel gab es zwei mehrere Kilometer lange Wanderwege, die der Mann mit Freuden entlangspazierte. Den abenteuerlicheren der beiden Wege in Begleitung eines siebenjährigen Jungen, der tatsächlich den gesamten Weg aus eigener Kraft zurücklegte.

Der Mann wollte den Jungen eigentlich nur eben zu dessen Eltern bringen, um allein loszuwandern, aber die Eltern waren nirgends zu finden, und so gingen die beiden mehrere Kilometer zusammen, in deren Verlauf sie auf drei weitere Mitglieder der Reisegruppe stießen, die sich ihnen anschlossen. Der Mann hoffte insgeheim, dass der Junge keine Angst bekommen würde, weil die Eltern nicht auffindbar waren, aber der Junge hatte im großen und ganzen viel Spaß auf der Wanderung, die über Wiesen, steinige Strände, durch Gestrüpp und Wald führte, und das alles im freundlichsten Sonnenschein.

Der Mann war kein Freund von Sommerhitze und länger andauernder Sonneneinstrahlung, aber der Sommer in Schweden fiel ihm als trocken und nicht schwül und viel weniger schweißtreibend und eine ganze Ecke angenehmer als in Hamburg auf. Im Anschluß an diesen Teil der Wanderung fand der Mann die Eltern des Jungen wieder, lieferte den Jungen bei ihnen ab und machte sich mit seinen zwei Kolleginnen vom Nachbarschaftstreff auf, den zweiten Wanderweg zu erkunden. Dieser Weg führte vornehmlich über moosgrüne Hügelwiesen, die mit aus unbehauenen Steinen bestehenden niedrigen Mäuerchen überzogen waren. Das alles erinnerte den Mann sehr an Schottland oder Irland, obwohl er noch in keinem dieser beiden Länder gewesen war.

Auf halber Strecke des zweiten, blau gekennzeichneten Wanderweges gingen die zwei Kolleginnen des Mannes im flach abfallenden Wasser baden, und der Mann zog sich die Mütze tief ins Gesicht und döste. Während eine Kollegin noch eine Weile am steinigen Strand liegenbleiben und entspannen wollte, ging der Mann mit der anderen Kollegin weiter und machte einen Abstecher auf die Terrasse des Inselrestaurants, wo er zu einer Tasse Kaffee eingeladen wurde.

Am Ende des Ausflugs fuhren alle Teilnehmer wieder zurück aufs Festland. Bezahlen mussten sie die Rückfahrt nicht, denn die Fährleute gingen davon aus, dass niemand zur Insel schwimmen und sich mit der Fähre zurückbringen lassen würde. Wohl um den Aufwand der Bezahlung zu reduzieren, entrichtete man seinen Obolus lediglich vor der Hinfahrt, bei der Rückfahrt wurden einfach alle Fahrgäste mitgenommen, die sich an der Anlegestelle versammelt hatten.

Zwei Tage später fuhr die gesamte Gruppe nach Karlskrona, einer Inselstadt in Ostschweden, die über eine Brücke zu erreichen ist. Von allen verfügbaren Sehenswürdigkeiten und Einkaufsmöglichkeiten, zu denen, wie ihm später berichtet wurde, wohl auch ein Laden gehörte, der Schwerter, gefärbte Kontaktlinsen und anderen Rollenspiel-Bedarf führte, zog es den Mann ausgerechnet zu H&M, und wenn er nicht so pietätslos wäre, hätte er sich danach ein bisschen geschämt deswegen. Anstatt die Seemannskirche zu besichtigen, ging der Mann bergauf und bergab hin und her und kreuz und quer durch Karlskrona und tat dann etwas, dessen er sich noch mehr hätte schämen können, wenn seine Geisteshaltung dies zugelassen hätte.

Anstatt die traditionellen schwedischen Köttbullar (sprich: Tschöttbullar) zu probieren, bei denen es sich um gebratene Fleischbällchen mit Preiselbeerkompott handelt, erwarb er als Mittagessen für 25 Kronen eine Art Döner. Danach ging er zum Wagen zurück, löste ein neues Parkticket, setzte sich hinein und döste. Köttbullar hat der Mann auf seiner Reise nicht gegessen, und vielleicht bereut er ja seine Entscheidung, auch wenn er meistens nicht besonders auf Preiselbeeren steht.

Am 26. Juli fuhr der Mann mit einem Teil der Reisegruppe die erste Tour zum "Café & Kuriosa", welches nördlich von Järnavik lag. Kurz vor dem staubigen Parkplatz am Café übergab sich ein kleiner Junge, der zusammen mit seiner Mutter an der Reise teilnahm. Keiner der anderen Reisenden ließ sich negativ darüber aus, was den Mann ein wenig erleichterte, aber auch nachdem er die Passagiere abgesetzt hatte und der Bus einer sorgfältigen Reinigung durch die Mutter des Kindes unterzogen worden war, ließ der Mann während der Fahrten im Bus lieber die Fenster offen.
Das Kaffeetrinken an besagtem Ort gefiel dem Mann wegen des leckeren Gebäcks und der schönen Aussicht, aber von den angeblichen Kuriosa war er leicht enttäuscht, denn es gab dort nichts, was bis zur Abreise seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Kurz vor der Abreise wurde noch ein Gruppenfoto gemacht, dann ging es wieder "nach Hause".
Der Weg hin zum Café (und zurück) war aber durchaus eine Reise wert, denn es handelte sich um eine derart verträumte hügelige Gegend, dass der Mann ganz bestimmt ein paar Fotos gemacht hätte, wäre er nicht der Fahrer gewesen.

An den letzten Tagen wurden abends Lagerfeuer entzündet oder Rollenspiele gemacht. Gespielt wurde unter anderem ein Werwolfspiel, bei dem der Mann während zweier Abende als Spielleiter fungierte, denn seine Kollegin, die diese Position am ersten Spieleabend innegehabt hatte, wollte liebend gern auch einmal mitspielen. Außerdem versuchte der Mann sich darin, als Kommissar in einem anderen Rollenspiel einen Mord aufzuklären, scheiterte jedoch an diversen Unstimmigkeiten. Die Spiele boten der Gruppe die Möglichkeit, ein wenig enger zusammenzurücken und miteinander ins Gespräch zu kommen, und der Mann erinnert sich gerne an diese Abende zurück.

In seiner Freizeit las der Mann mit einem Schmunzeln das besagte Buch oder hörte Hörbücher, nämlich "Das Opfer" von John Katzenbach und "Puls" und "Das Mädchen" von Stephen King. Insgesamt war er jedoch wegen des unzureichenden Schlafes oft so müde, dass er mit seinen Kopfhörern eindöste und unter Konzentrationsstörungen litt. Die Hörbücher selbst fand er auch nicht besonders herausragend, wenn er ehrlich war.
Besonderen Gefallen fand der Mann auch an der Beschäftigung, seinem Mobiltelefon beizubringen, dass es keine Datenverbindung im Ausland aufbauen sollte. Das Telefon ließ sich von seinen Anweisungen jedoch zunächst nicht beirren und aktualisierte jeden Tag mehrmals die RSS-Webfeeds des Mannes und schien online zu gehen, wann immer es wollte. So kam es, dass der Mann ohne irgendeinen Nutzen über 30 Euro in Datenverbindungen investierte. Schließlich (nach etwa einer Woche) bekam er sein vorlautes Telefon jedoch in den Griff.

Außer einigen wesentlichen Wörtern ("Hej" - "Hallo" und "Klar att skriva ut" - "Bereit zum Drucken" [etwas, was er von einem schwedischen Druckertreiber aufgeschnappt hatte]) konnte der Mann überhaupt kein Schwedisch, nicht mal ein bisschen. Wirklich. Kein Stück. Deshalb war er froh, dass er auf seine Englischkenntnisse zurückgreifen konnte, denn alle Schwedinnen und Schweden, mit denen er Kontakt aufgenommen hatte, hatten Englisch gesprochen. Auch die Jugendlichen, die offenbar früh Englisch in der Schule lernten.

Der Mann bewunderte während seines Aufenthaltes nicht nur Schwedens Flora, sondern auch die Fauna. Er sah auf seiner Reise Schafe, Kühe, Pferde, Hunderte von Dohlen und viele andere Vögel, Bienen, Hummeln und Wespen, Gänse, Quallen, Schnecken, Grillen und Grashüpfer, Schmetterlinge, Käfer und Fledermäuse und zog einmal auch eine Blindschleiche aus dem Gebüsch. Doch er schätzte, dass der größte Teil der Biomasse - sogar in seinem Zimmer - und sogar mit ihm und seinem Zimmernachbarn darin - von Mücken gebildet wurde, und das trotz Fliegengitter. In einer Nacht befanden sich in seinem Zimmer etwa 50 Mücken und 150 weitere Insekten, alle im Lichtkegel einer einzigen Lampe. Insgesamt trug der Mann etwa 40 Mückenstiche davon.
Nur ein Tier sah der Mann auf seiner Reise nicht, obwohl er danach Ausschau hielt, wann immer es ihm sinnvoll schien - einen Elch.

Die Zimmerteilung mit seinem "Mitbewohner" klappte sehr gut. Der Mann ging ein paarmal viel später schlafen als sein Zimmernachbar und fürchtete dann, diesen aufzuwecken, doch anscheinend wurde niemand gestört. Sein Mitbewohner hingegen schnarchte des Nachts vernehmlich, aber der Mann war stets so müde, dass er trotzdem gut einschlafen konnte.

Was der Mann am Tag der Rückfahrt von Schweden mitnahm, war außer einigen Hundert Kronen der Landeswährung den Eindruck, dass Schweden, von dem er lediglich einen winzigen Südzipfel gesehen hatte, ein wundervolles Land mit freundlichen Bewohnern ist. Ein weites, würziges, liebenswertes und abwechslungsreiches Land, grün und nochmals grün. Ein Land, das zum Wandern und Entspannen einlädt.
Ein Land, in das er gern zurückkehren wird, wenn die Zeit gekommen ist.


Kommentare
  • tooky
    Vielen Dank für die schöne Geschichte! Die Photos sind wunderschön - da möchte man sofort selbst losziehen...oder sich die Bilder an die Wand hängen. Um die Mücken beneide ich Dich nicht, dafür um die Spiele am Lagerfeuer und das Erlebnis in der Natur - und ich gönne Dir beides sehr. Willkommen zurück.:)

    • Fabian Kölle

      Dankeschön! Die Spiele fanden zwar nicht am Lagerfeuer, sondern im antiquarisch anmutenden Aufenthaltsraum der Jugendherberge statt, aber beides war sehr gemütlich. :)


DEIN KOMMENTAR
Pandorama