Die Probabilität der Theorien

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Manche Theorien sind schwer zu belegen. Vor allem was die Geschichte (des Universums, der Arten, des Menschen) anbelangt, lassen sich viele Begebenheiten nicht rekonstruieren; dann rät man mitunter fröhlich ins Blaue hinein. Wie wurde die Cheops-Pyramide gebaut? Wozu dienten die Figuren auf der Osterinsel oder die Quader von Stonehenge? Wodurch sind die Dinosaurier ausgestorben? Gibt es soetwas wie Zufall wirklich, oder ist dieses Phänomen lediglich eine Konsequenz der Unwissenheit? Stammen die berühmten Kristallschädel wirklich von den Mayas, Inkas oder Azteken?

Zu all diesen Fragen gibt es gute Theorien. Theorien sind nicht gleich Theorien. Die Relativitätstheorie oder Quantentheorie sind beispielsweise heutzutage so umfangreich durch empirische Belege nachgewiesen, dass man sie nicht als Theorien bezeichnen müsste. Im Falle der Quantentheorie tut man das auch nicht mehr - man nennt sie mittlerweile Quantenmechanik. Aber selbst die Gravitationstheorie wird noch als solche bezeichnet, und viele andere gesicherte Modelle auch.

Wenn ich jemandem etwas über die ägyptischen Pyramiden erzählen sollte, würde ich sie als monumentale rituelle Grabmale bezeichnen, deren Steine vermutlich auf serpentinenartigen Sandrampen bis zur Spitze transportiert wurden. Möglicherweise würde ich noch einige astronomische Aspekte erwähnen, über die spekuliert wird. Aber was ist, wenn jemand behauptet, die Cheops-Pyramide sei eine riesige Wasserpumpanlage gewesen? Welche Argumente hätte ich, um diese Theorie zu widerlegen? Um es ohne Umschweife zuzugeben: gar keine.

Es hört sich unwahrscheinlich an, dass diese Pyramide als Pumpwerk konzipiert wurde. Warum? Weil sie doch, wie alle wissen, eine Grabstätte ist. Das ist jedenfalls die landläufige Meinung. Aber eine Theorie wird nicht dadurch gesicherter, dass sie von vielen Leuten vertreten wird. Warum kann ich die Theorie, dass die große Pyramide von Gizeh ein Grabmal ist, nicht verteidigen? Weil ich die Argumente, die zu dieser Auffassung führen, nicht kenne. Ich weiß wohl, dass im Innern des Bauwerks eine Sarkophag-ähnliche Kammer gefunden worden sein soll, doch die genaueren Umstände kenne ich nicht, und wenn jemand behauptet, das Objekt sei beispielsweise ein Staubecken gewesen, könnte ich nicht widersprechen.

Die Geschichte der Pyramiden ist interessant, aber sie ist für mein Weltbild von eher geringer Bedeutung. Ich meine trotzdem, dass die Art meines Wissens darüber - und die Umstände, die zu meinem Wissen geführt haben - auf andere Situationen übertragbar sind. Ich fasse zusammen:
1.) Bevor ich von der Wasserpump-Theorie gehört habe, war ich mir sicher, dass die Cheops-Pyramide ein Grabmal sei.
2.) Ich hatte keine Kenntnis von Fakten, um diese Auffassung zu belegen.
Ich habe mich nicht gefragt, wie wahrscheinlich es sei, dass die Pyramide eine Grabstätte ist. Ich ging davon aus, dass diese Theorie gesichert sei und habe sie deshalb nicht hinterfragt.

"Wenn 50 Millionen Menschen etwas Dummes sagen, bleibt es trotzdem eine Dummheit."
Anatole France

Dieses Vorgehen ist sehr praktisch und wird häufig angewandt. Ohne diese Herangehensweise wüsste ich viel weniger. Ich wüsste nicht, dass die Erde rund ist (besser gesagt, ein Rotationsellipsoid), dass Menschen bereits den Nordpol oder den Mond bereist haben, dass Nero Rom niederbrennen ließ oder dass Stephen King Mitglied der Band "Rock Bottom Remainders" ist. Ich wüsste nichts vom Holocaust, von Vulkanausbrüchen, von Tiefseefischen oder von Politik.

Lange Zeit sprach man davon, dass bei der Eroberung der im Nildelta gelegenen Stadt Alexandria durch Cäsar die große Bibliothek in einer Feuersbrunst unterging. Wikipedia sagt mir nun, dass diese Theorie nicht gesichert ist. Ich hätte es so an meine imaginären Kinder weitergegeben, aber offenbar streiten sich die Experten. Welcher Anteil meines Wissens gesichert ist und welcher bloße Theorie, mache ich mir selbst kaum bewusst, und oft genug kann ich diese Frage überhaupt nicht mal ansatzweise beantworten. Dass die Erde keine Scheibe ist, halte ich für ein Faktum. Aber wie würde ich es belegen? Wie würde ich belegen, dass die Lebewesen auf der Erde ihre Erbinformation durch Gene an ihre Nachkommen übertragen? Wie würde ich nachweisen, dass Wasserstoff leichter ist als Sauerstoff? Welche Argumente hätte ich für die Theorie, dass die Dinosaurier durch den Einschlag eines Himmelskörpers ausgestorben sind?

"Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen."
Kurt Tucholsky

Zurück zu den Pyramiden. Sakkara ist eine Totenstadt 20 Kilometer südlich von Kairo. Dort befindet sich eine etwa 8 Meter hohe Pyramide, die dem Pharao Sechemchet zugerechnet wird. Die Pyramide wurde von einem Ägyptologen namens Muhammad Zakaria Goneim entdeckt, der im Mai 1954 zur eigentlichen Grabkammer vordrang, in der er die Mumie des Pharaos erwartete.
Er fand die noch mehrfach versiegelte Kammer schmucklos vor, jedoch befand sich in ihrem Innern ein Sarkophag, der unter großem Medienrummel öffentlich entsiegelt und geöffnet wurde. Der Sarkophag war zu Goneims Erstaunen leer, und das Interesse der Medien erlahmte.
Erich von Däniken berichtete, dass Goneim zum Sarkophag zurückkehrte und in ihn hineinkroch, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sobald er wieder zum Vorschein kam, seien seine Augen glasig gewesen, und er sei nicht mehr normal ansprechbar gewesen. Einige Tage später soll er Selbstmord begangen haben. Ist das nicht faszinierend? Sein Assistent soll nach seinem Suizid interessehalber ebenfalls in den Sarkophag gekrochen sein und sich - genau wie Goneim - umgebracht haben. Äußerst rätselhaft, oder?

Laut Wikipedia starb Goneim jedoch erst 1959, also 5 Jahre später, und zwar möglicherweise als Folge einer Diebstahlsbeschuldigung. Das komplette Rätsel verpufft ohne geheimnisvollen Nachgeschmack.

Zwei Beispiele möchte ich noch anbringen. Folgendes ist tatsächlich passiert:
Im Jahr 1992 wurden auf einem Feld in Wiltshire, England, zwei Kornkreise gefunden, die über Nacht entstanden sind. Die Getreidehalme waren nicht abgeknickt, sondern an der Basis geplättet. Wenn Menschen aus Jux Kornkreise herstellen, sind die Halme nie unbeschädigt, sondern gebrochen oder geknickt.
Außerdem wurden in den Kreisen Einlagerungen von Promethium nachgewiesen - eines Elements, welches ausschließlich künstlich hergestellt werden kann und in der Natur nicht vorkommt.

Ich beende hier die Darstellung der Geschichte, um mir nicht vollkommen lächerlich vorzukommen. Ich habe alle "Tatsachen" des obigen Absatzes erlogen, um ein Beispiel zu haben, mit dem ich im Folgenden arbeiten kann.
Die Frage ist: Was hindert mich daran, eine Doku zu drehen, die diese Geschichte belegt? Ich besorge mir Bilder von Kornkreisen, mache Nahaufnahmen von sorgfältig geplätteten Halmen, entnehme Laboraufnahmen aus Filmen oder präsentiere seriöse Aufnahmen von Oszilloskopen und dergleichen Gedöns, um zu "beweisen", dass tatsächlich Promethium gefunden wurde.

Zur Verdeutlichung der Problematik mein zweites Beispiel. Hier ein Auszug aus Wikipedia:
Wenn sich ein geladenes Teilchen durch ein dielektrisches (nichtleitendes) Medium bewegt, werden die Atome längs der Flugbahn durch dessen Ladung kurzzeitig polarisiert. Durch die Polarisation (Ladungsverschiebung) der Atome senden diese elektromagnetische Wellen aus (beschleunigte/abgebremste Ladungen senden elektromagnetische Wellen aus). Im Normalfall interferieren die Wellen benachbarter Atome jedoch destruktiv (sie löschen sich aus), so dass keine Leuchterscheinung beobachtet wird. Bewegen sich die geladenen Teilchen jedoch schneller als das Licht in dem umgebenden Medium, so können die Wellen benachbarter Atome sich nicht mehr auslöschen, da sie schneller erzeugt werden als sie sich auslöschen können. Diese elektromagnetischen Wellen kann man dann als Tscherenkow-Licht beobachten.

Wenn ich mal annehme, dass der Leser oder die Leserin keine herausragenden Kenntnisse der Kernphysik hat, wird dieser Auszug aus Wikipedia ihm oder ihr ziemlich unverständlich und damit auch nicht besonders glaubwürdig erscheinen. Ist meine Kornkreis-Doku nicht glaubwürdiger als dieses mysteriöse Tscherenkow-Licht? Ich bin sicher, dass ich ohne große Mühe etwas erfinden könnte, was in punkto Glaubwürdigkeit die Tscherenkow-Strahlung in den Schatten stellt. Die Strahlung ist echt, meine Kornkreis-Doku nicht - aber wie soll ich dazwischen unterscheiden?
Fragt mich jemand, woher ich weiß, dass Kornkreise über Nacht entstehen können, könnte ich antworten: aus einer Reportage. Ist das nicht ein bisschen mager? Reporter berichten alles mögliche, wenn der Tag lang ist (und auch sonst). Ich habe bereits einige haarsträubende Dokus gesehen, und es sind sicher derer viele, die ich noch nicht gesehen habe und nie sehen werde.

Anlässlich des Amoklaufs von Erfurt im Jahr 2002 berichteten mehrere Magazine und Zeitungen über den Ego-Shooter "Counterstrike". Hier einige Zitate:

"Das populäre und indizierte Computer-Onlinespiel Counter Strike [...] das Spiel, in dem man vom Polizisten (sogar die GSG 9) über den Passanten bis hin zum Schulmädchen jeden erschießen soll."
FAZ

"Großmütter mit Kinderwagen und Schulmädchen bringen Extrapunkte im PC-Spiel."
Hamburger Abendblatt, 19.04.2002

"Hier werden Geiseln genommen und Schulmädchen erschossen. Das Mädchen trägt einen karierten Rock und eine weiße Bluse. Sie ist überrascht, als sich die Türe öffnet. Das letzte, was die Schülerin in ihrem Leben wahrnimmt, ist das Mündungsfeuer der Automatikwaffe, die der Eindringling auf sie richtet. Ihre Bluse färbt sich rot - Ziel eliminiert."
Rheinische Post, 29.04.2002

Wer verschiedene Zeitungen liest, wird an der Erkenntnis, dass im Spiel Schulmädchen erschossen werden, nicht vorbei kommen. Aus welchem Spiel die obigen Szenarien entnommen sind, ist mir nicht klar, denn als ehemaliger Counterstrike-Spieler weiß ich, dass es in dem betreffenden Spiel keine Großmütter, Kinderwagen, Passanten oder Schulmädchen gibt. Es wurden sogar Bilder veröffentlicht, die offensichtlich aus anderen Spielen stammten und mit Counterstrike in Zusammenhang gebracht wurden.
Ich finde es interessant, dass ich mir so die normale Berichterstattung der Medien vorzustellen habe, denn schließlich handelt es sich hier nicht um einen Einzelfall. Weitere Infos sind in diesem Artikel zu finden.

Das Problem ist, dass Menschen aus Gründen der Aufwandsminimierung dazu tendieren, eine viabel erscheinende Kette von Zusammenhängen und Informationen unhinterfragt als Wahrheit zu beurteilen.
Was mich persönlich stört, ist die Tatsache, dass es für viele der geläufigen Theorien keine Probabilitätserhebungen gibt. Ich weiß demnach nicht, zu welchem Anteil eine Theorie bislang gesichert und zu welchem Anteil sie bloße Spekulation ist. Ich würde gern öfter erfahren, aus welchen Beobachtungen oder Quellen sich mein sogenanntes Wissen ableitet, um einschätzen zu können, wie wahrscheinlich es ist, dass es stimmt.

Was ist meine Aussage? Wer dies liest, könnte meinen, dass ich andere Menschen dazu erziehen möchte, bisher nicht eindeutig bewiesenen Theorien keinen Glauben zu schenken und sich somit nur an das zu halten, was ganz klar Fakt ist. Das stimmt so aber nicht, denn ich selbst halte zum Beispiel Vorurteile für einen wichtigen Bestandteil der Wahrnehmung.
Vielmehr möchte ich dem Leser oder der Leserin lediglich mitteilen, dass mir dieses Problem der fehlenden Probabilitätsangabe aufgefallen ist, ohne dass sich daraus eine Handlungsnotwendigkeit ergibt. Ich habe keinen Auftrag, keine Mission zu erfüllen, sondern veröffentliche auf Pandorama ganz einfach Themen, die mir privat interessant erscheinen.


Kommentare
  • aitschkey
    Hallo, ich bin durch Zufall auf Deine Seite gestossen und bin schon seit Tagen damit beschäftigt. Deine Seite trifft mich. Das zwingt mich zum Denken - wie ich Dir zustimmen oder widersprechen kann. Was beides der Fall ist. Für Heute meinen Respekt für Deine Seite und auch Deine Meinung! viele Grüße aitschkey

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