Mein Vater und der Tod

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Morgen hat mein Vater Geburtstag. Ich rufe ihn an und frage ihn, ob er schon verabredet ist. Ist er nicht. Ich frage, ob er Lust hat, sich mit mir zu treffen, einfach so, ohne große Feier, einfach nur gemütlich treffen. Er sagt zu. Er fragt mich, ob ich Schwarzwälder Kirschtorte mag. Ja, die mag ich sehr gerne. Ich muss morgen arbeiten, und wir verabreden uns für 18 Uhr.

Am nächsten Tag klingle ich an der Tür. Mein Vater ist heute 83 geworden, also schon etwas älter, und er hört nicht mehr besonders gut. Es kann sein, dass er unten im Keller an etwas bastelt oder eine Sendung im Fernsehen schaut. Ich klingle nochmal. Es ist auch gut möglich, dass er noch kurz einkaufen ist, schließlich habe ich einen Schlüssel zu seinem Haus und muss im Fall der Fälle nicht auf ihn warten. Ich lasse mich selbst hinein.

Der Eingangsbereich ist dunkel, wahrscheinlich ist er tatsächlich noch kurz einkaufen gegangen. Ich schaue nach, ob im Keller Licht brennt, aber dort ist es auch dunkel.
Ich gehe ins Wohnzimmer und bleibe abrupt stehen, als ich merke, dass er auf der Couch sitzt und schläft. Für einen Moment habe ich den Impuls, leise hinüber ins Arbeitszimmer zu gehen und mir dort die Zeit zu vertreiben, um ihn in Ruhe ausschlafen zu lassen. Ich gehe auch ein Stück, kehre aber wieder um. Ich bin verwirrt, weiß aber nicht so recht, warum. Es fühlt sich an wie eine dieser Situationen im sozialen Umfeld, in denen man nicht genau weiß, wie man sich verhalten soll. Nur, dass hier niemand ist außer meinem schlafenden Vater. Und mir.

Dann wird mir der Grund für meine Verwirrung bewusst: Mein Vater schnarcht. Generell gesprochen. Oder sagen wir, er ist niemand, der das Atmen beim Schlafen auf die leichte Schulter nimmt. Wenn nicht alle etwaigen Umstehenden, alle Mäuse auf dem Dachboden und alle Spinnen im Gebälk sowohl das Ein- als auch das Ausatmen mitbekommen, hat es für meinen Vater auch nicht stattgefunden. Man muss sich seinen Schlaf schon erarbeiten.
Ich mag das Schnarchen meines Vaters, wie ich alle Geräusche von ihm mag. Sein improvisiertes Klavierspiel, sein fröhliches Pfeifen, seine gelegentlichen halblauten Selbstgespräche beim Arbeiten. Seine Geräusche haben etwas Affirmatives, etwas Lebensbejahendes. Es knistert eben, wenn man eine Tafel Schokolade auspackt. Wo Geräusche sind, passiert etwas.

Aber hier, im Wohnzimmer meines Vaters, in diesem Moment, passiert nichts. Er schnarcht nicht, ich höre ihn nicht. Meine Verwirrung weicht aus mir und wird ersetzt... ...durch etwas anderes. Eine Frage. Eine sehr konkrete Frage, die ich aber nicht direkt stelle. Die Antwort... Vielleicht möchte ich für die nächsten paar Minuten keine Antwort. Ich stehe nur da und sehe zu meinem Vater hinüber. Er sitzt auf der Couch, schlafend, sein Kopf liegt hinten auf der Lehne, seine Augen sind geschlossen, sein Mund ist zum Atmen leicht geöffnet. Ein friedliches Bild. Er hat die Fernbedienung noch in der Hand, der Fernseher ist aus. Die Brille hat er abgenommen.
Was ist die Frage? Die Frage ist, ob es einen Sinn macht, ihn anzusprechen. Er könnte aufwachen, und dann? Er könnte auch einfach weiter dort sitzen. Ich weiß, das ist nicht die wirkliche, konkrete Frage, aber ich brauche noch eine Minute, sie zu stellen. Höre ich etwas? Ich bin mucksmäuschenstill. Hebt und senkt sich seine Brust? Ich schaue genau hin, aber im Halbdunkel ist es nicht leicht zu sehen. Soll ich Licht anmachen? Ist das die Frage? Er könnte aufwachen, und dann? Oder er könnte einfach weiter dort sitzen und mich mit einer anderen Frage zurücklassen.

Vielleicht mit der Frage, ob dies einer der Tage ist, an denen ich meinen Vater besuche. An denen wir gemeinsam zu Abend essen und uns erzählen, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, woran wir gerade arbeiten, was uns beschäftigt. Es ist schon einmal keiner der Tage, an denen mich mein Vater freudig und verschmitzt an der Tür begrüßt, wir uns auf die Schulter klopfen und er mich wie immer darauf hinweist, dass ich meine Schuhe nicht ausziehen muss. Es ist schonmal kein Tag wie immer.

Vor ein paar Jahren in der Weihnachtszeit war es auch kein Tag wie immer. Die ganze Familie und ein paar Freunde waren zu Besuch bei meinem Bruder und seiner Frau in der Nähe von Frankfurt. Mein Vater sagte, dass er sich einen Moment setzen müsse. Ein paar Augenblicke später kippte er fast von seinem Stuhl, und wir legten ihn auf den Boden. Er war bewusstlos. Meine Schwägerin klatschte ihm mit der flachen Hand auf die Wange, um ihn aufzuwecken - eine sich steigernde Prozedur, die in einer überaus saftigen Ohrfeige mündete, die meinen Vater schließlich wieder zu Bewusstsein brachte. Nach ein paar Tests seiner geistigen Verfassung, die ihm eine gewisse Normalität bescheinigten, betteten wir ihn in eine bequemere Liegeposition und riefen einen Krankenwagen. Die mutmaßlichen Ursachen für diesen Zwischenfall waren Dehydratation und eine versehentliche Fehldosierung eines den Blutdruck beeinflussenden Medikaments.

Heute jedenfalls steht eine Tasse Tee auf dem Wohnzimmertisch vor meinem Vater, immerhin. Ich habe ihn häufiger ermuntert, mehr zu trinken, ganz wie ich es selbst auch versuche. Und nach den etwa 10 Minuten, die ich jetzt wahrscheinlich schon in seinem Haus bin, in denen ich unschlüssig umhergetappt bin, weil ich die eine Frage nicht stellen wollte, sammle ich mich kurz und gehe nahe zum ihm hin.
Er ist tot, oder?
Ich sehe in seine Augen, deren eines doch ein wenig geöffnet ist, wie ich jetzt bemerke. Ich sehe auf seinen leicht geöffneten Mund, dessen Unterlippe vielleicht doch ein wenig zu schmal und trocken ist. Und - überflüssig, aber was soll ich schon tun? - ich rufe "Papa?" und wackle an seiner Schulter, und das fühlt sich ganz und gar nicht gut an. Sein Kopf fällt nicht zurück, wenn ich die Schulter zu mir hin ziehe. Mein Vater ist aus einem Stück. Die Leichenstarre hat eingesetzt.

Heute, am 03.01.2018, an seinem 83. Geburtstag, ist mein Vater gestorben. Nach einem morgendlichen Besuch bei seiner Hausärztin und der Apotheke ist er, wie ich mit einem Kloß im Hals anhand eines Kassenzettels feststelle, noch zur Bäckerei gegangen, um eine ganze Schwarzwälder Kirschtorte vorzubestellen. Er hat sich vermutlich gemütlich mit einer Tasse Tee vor den Fernseher gesetzt, ist dann müde geworden, hat den Fernseher ausgeschaltet und ist eingeschlafen.

Was mache ich nun? Ich gehe rüber ins Arbeitszimmer und rufe meine Freundin an. Wir haben uns zwar vor zwei Tagen getrennt, aber nicht im Streit, und sie ist meine beste Freundin. Es ist ein ganz seltsames Gefühl, auszusprechen, dass mein Vater gestorben ist. Denn er ist doch da, er sitzt im Wohnzimmer! Was, wenn er das hört? Ich bin extra rüber ins Arbeitszimmer gegangen, weil ich in seiner Gegenwart nicht über seinen Tod sprechen kann. Sie fragt, wie es mir geht.

Wie geht es mir? Ich weiß es nicht so genau. Ganz okay, glaube ich. Ja, mein Vater war schon älter, und ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, wenn er stirbt. Es gab drei Szenarien. Entweder würde mir jemand mitteilen, dass mein Vater gestorben sei, oder ich würde dabei sein, wenn er stirbt, oder ich würde ihn tot auffinden.
In Gedanken konnte ich mir nur den ersten Fall vorstellen. Meinen Vater sterben zu sehen oder ihn tot zu finden, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren würde. Würde ich schreien und toben, alles klein schlagen und mich dabei selbst verletzen? Ich wusste es nicht, und ich wollte es auch nicht wissen. Ich wusste nur, dass einer dieser drei Fälle eintreten würde, sollte mein Vater vor mir sterben. Und dass ich weinen würde.

Aber ich weinte nicht. Ich rief meine Freundin an, ich rief meinen Bruder an, und dann, nach einer Weile, ging ich zu den Nachbarn meines Vaters, die mir am besten bekannt waren. Ich wollte mit jemandem sprechen, ich wollte unter Menschen sein, ich wollte Unterstützung. Wir sprachen eine Weile, dann rief ich einen Krankenwagen, und der Nachbar ging später mit mir wieder rüber zum Haus meines Vaters. Was an diesem Abend weiter passiert ist, ist nicht so interessant; das Krankenwagenteam stellte den Tod fest, eine Ärztin vom Notfalldienst stellte den Totenschein aus, aus irgendeinem Grund kamen noch Polizisten und ließen sich den Totenschein zeigen, und später kamen Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, um meinen Vater abzuholen.
Es hat mir gut getan, dass Leute da waren. Es hat mir gut getan, zu Nachbarn gehen zu können, und dass die vielen Menschen, die an jenem Abend im Haus meines Vaters ein und aus gingen, um ihre Arbeit zu tun, alle freundlich zu mir waren und mir Unterstützung angeboten haben. Ich war nicht allein.

"Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens, was Glück war."
Françoise Sagan

Seitdem sind ein paar Monate vergangen. Ich habe das Gefühl, viel erlebt zu haben. Zusammen mit meinem Bruder habe ich die Urne ausgesucht und die letzte Kleidung meines Vaters ausgewählt. Einen Ort für die Bestattung festgelegt. Bin mit meiner vierjährigen Nichte auf den Schultern durch den Friedhofsschnee gestapft und habe in kleinstem Familienkreis nun auch meinen Vater unter die Erde gebracht. Eine Zusammenkunft für Nachbarn mit Kaffee und Kuchen und ein Treffen mit den engsten Freunden meines Vaters abgehalten. Alle anderen Bekannten informiert. Dinge recherchiert. Dokumente ausgefüllt. Das Haus entrümpelt, das zum Nachlass meines Vaters gehört und in das voraussichtlich die Familie meines Bruders einziehen wird.

Und in der Zwischenzeit habe ich auch ein paarmal geweint. Nicht bei der Bestattung, sondern immer dann, wenn ich mich mit der Kleidung meines Vaters beschäftigt habe. Und auch jetzt fast, da ich daran denke. Die Kleidung ist die engste zurückgebliebene Hülle meines Vaters. Sie zeigt mir exakt die physische Leere, die er hinterlässt, ein vaterförmiges Vakuum in meiner Lebensrealität. Sie zeigt mir, dass nichts so wenig Sinn macht wie die Kleidung meines Vaters ohne meinen Vater. Zeigt mir, dass ich meinen Vater unbedingt wieder zurück haben möchte. Sein Fehlen in dieser Welt entzieht so vielem anderen die Grundlage, dass es einfach komplett absurd ist. Und ich kann ihm nicht einmal davon erzählen.

Ich kann nicht ausdrücken, wie versöhnlich es mich stimmt, dass mein Vater friedlich gestorben ist und auch für mich, der ich ihn fand, ein friedliches Bild abgab. In mir war und ist keine Verbitterung, nur Trauer. Sein Tod hat mich aus heiterem Himmel tief getroffen, und es schmerzt sehr, aber es ist der Schmerz eines gebrochenen Schlüsselbeins vom Skifahren und nicht der Schmerz eines gebrochenen Jochbeins durch einen gewalttätigen Übergriff. Ich hasse den Schmerz nicht, der mir zugefügt wurde. Ich weiß, dass er nie ganz ausheilen wird, aber das muss er vielleicht auch gar nicht.

Neulich hörte ich, dass sich ein Mensch durchschnittlich alle 18 Jahre mit dem Tod eines anderen Menschen aus seinem näheren Umfeld auseinandersetzen muss. Abgesehen davon, dass es gewiss nicht leicht ist, eine belastbare Definition des "näheren Umfelds" festzulegen, habe ich auch so meine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussage, denn bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren müsste sich ein durchschnittlicher Deutscher mit nicht einmal 5 Todesfällen einschließlich seiner Eltern beschäftigen. In seinem gesamten Leben. Wie dem auch sei, ich habe die 5 Todesfälle im näheren Umfeld jedenfalls in den letzten 6 Jahren erlebt. Und ich muss sagen, dass ich jetzt auch wirklich die Schnauze voll habe. Ich möchte bitte die nächsten 18 Jahre keine Todesfälle mehr in meinem näheren Umfeld! Im Ernst!

Es ist ohnehin etwas viel in der letzten Zeit. Meine 20 Jahre lange depressive Störung habe ich in den letzten zwei Jahren zwar überwunden, aber so etwas ist ja nicht einfach rückstandslos weggeblasen, sondern erfordert in der Nachbehandlung immer einen gewissen Energieaufwand. Um in einen neuen Lebensabschnitt zu starten, hatte ich mir zum Jahreswechsel einiges vorgenommen, das ich auch teilweise umsetzen konnte, und ich bin momentan arbeitsmäßig überdurchschnittlich ausgelastet. Manchmal habe ich das Gefühl, dass selbst die schönen Augenblicke dazu beitragen, dass in mir zuviel Bewegung entsteht. Dass in mir eine Art Emotionsflüssigkeit herumschwappt, die durch die schönen Erlebnisse nicht einfach nur zum Leuchten gebracht, sondern auch noch weiter aufgewühlt wird, und dass dies in der Gesamtbewegung vielleicht zuviel ist. Aber das wird sich zeigen. Ich habe noch viel vor.

Das ist die Uhr meines Vaters. Sie ist eine der wenigen Hinterlassenschaften, die mich in meinem Alltag umgeben. Ich trage sie nicht, aber sie steht in einem Regal in meiner Wohnung und erinnert mich an ihn.


Kommentare
  • Europesbest
    Vorab , mein ehrlich gemeintes Beileid zum Ableben deines Vaters. WoW , ein sehr persönliches Statement. Deine Offenheit über dich selbst überascht mich anfänglich, aber lass Dir gesagt sein, du und deine Worte sind immer eine grosse "Hilfe" für die Menschen, die sie empfangen, hier im Forum die Leser. Mit "Hilfe" meine ich nicht Hilfe im klassischen Sinn, sondern, es steckt soviel Wahrheit + Logik in deinen Texten, soviel Verständnis und Erklärung des erstmal Unverständlichen. Schwer zu beschreiben, wenn man dein Geschriebenes liest, wird einem das, was man unklar und undeutlich im Kopf hat, aufeinmal glasklar. Es macht irgendwie "Klick" und man weiss, auf welche Fragen man sich stürzen muss, um einen guten Durchblick zu erhalten. Mich persönlich, hat das studieren deiner Seite(n) enorm voran gebracht: menschlich + analytisch. z.B., etwas, das du in obigem Text beschreibst, kenne ich von mir ganz genau und deshalb läuft mir ein Schauer über den Rücken.Ich nenne dies, wenn ich mit meinen Freunden + Familie darüber spreche:Ich habe einen "Euphorieflash"...Ich beklage mich dann, genau wie du es beschreibst, darüber, dass zuviel Euphorie auch nicht gut zu verarbeiten ist... Deshalb bin ich relativ überascht, dass du etwas von Depressionen schreibst, mit denen du wohl sehr lange zu kämpfen hattest/hast. Ein Mensch , wie du sollte dies nicht haben, da du dich immer wieder daran erinnern solltest, wieviel Menschen du mit deinen Gedanken , eben aus nicht so schönen Lebensphasen, herauskatapultierst. Wenn du es nicht weisst, erinnere ich dich hiermit daran.Das wäre so , als wenn ein Doktor , der jeden Tag Menschen hilft, die Euphorie der glücklichen und geheilten Menschen vergisst, und depressiv würde. Bleibe aktiv, da du einer bist, der den absoluten Durchblick hat und den auch noch weitergibt.Mehr kann man sich nicht wünschen, um das gute Leben zu meistern. PS: Im Gottesforum noch eine kleine Anekdote zum Championsfinale am Samstag… EOG Europesbest

    • Fabian Kölle

      Danke für deine Anteilnahme und deine Schilderung dessen, wie du von meinem Geschreibsel profitierst. Du hast Recht, dass dieser Eintrag persönlicher ist als vieles andere auf Pandorama. Vielleicht ebnet er den Weg für andere Einträge, die noch kommen mögen.
      Tja, man sucht sich seine Krankheiten nicht aus, und depressive Störungen können hartnäckig sein und lassen sich meist durch analytische Gedankengänge allein nicht bezwingen.
      Vielleicht schreibe ich bald mal etwas über meine Erfahrungen mit diesem Thema...


  • Drutquith
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